WIR ERINNERN AN FLUCHT, VERTREIBUNG UND DEPORTATION SOWIE AN DAS SCHICKSAL DER DEUTSCHEN MINDERHEITEN IN DEN STAATEN MITTEL- UND OSTEUROPAS SOWIE IN DER SOWJETUNION UND IHREN NACHFOLGESTAATEN
„Wer die Geschichte kennt und in die Zukunft schaut, der kann nicht anders als ein überzeugter Europäer zu sein.“
(Zitat von Erzbischof em. Dr. Robert Zollitsch)
Am 20. Juni 2020 begehen wir den bundesweiten „Nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ zum sechsten Mal. Auf diesen bundesweiten Nationalen Gedenktag, der die Erinnerung an das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg lebendig hält sowie zu Verantwortung und Versöhnung mahnt, mussten die Heimatvertriebenen jahrzehntelang warten. Seit dem entsprechenden Bundesratsbeschluss aus dem Jahr 2003 hatte es über zehn Jahre gedauert, diesen zu realisieren. Mit Beschluss vom 27. August 2014 hat die Bundesregierung den 20. Juni (UNO-Weltflüchtlingstag) als feststehendes Datum ausgewählt und der Gedenktag konnte erstmals am 20. Juni 2015 in Berlin feierlich begangen werden. Er soll verdeutlichen, dass Flucht und Vertreibung nicht nur für die davon Betroffenen eine traurige Bedeutung haben, sondern Teil der Geschichte aller Deutschen und Teil der europäischen Geschichte sind.
Lag der inhaltliche Schwerpunkt im ersten Aufruf der Landesbeauftragten der Länder Niedersachsen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Hessen zu „75 Jahre Kriegsende – Wir erinnern an Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten“ vom 8. Mai 2020 auf dem Thema „Flucht und Vertreibung“, so möchten wir in diesem Aufruf in besonderer Weise den Blick auf das schwere Schicksal der nach dem Zweiten Weltkrieg in den Herkunftsgebieten verbliebenen Deutschen – der Heimatverbliebenen – richten sowie auf deren Bemühungen zur Aufrechterhaltung der deutschen Sprache und Kultur.
In diesem Sinne setzen wir ein Zeichen:
Wir erinnern daran, dass der von Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Ideologie dazu geführt haben, dass deutsche Minderheiten in den Staaten Mittel- und Osteuropas sowie der Sowjetunion oftmals als innere Feinde betrachtet wurden und jahrzehntelang schwersten Repressionen ausgesetzt waren.
Wir erinnern daran, dass nach Vertreibungen, Deportationen und Zwangsarbeit es in vielen Herkunftsgebieten massive Schwierigkeiten gab, die eigene Kultur zu erhalten. Staatliche Zielsetzung war es oftmals, eine Assimilierung der Minderheiten zu erreichen. Dadurch wurden die Beziehungen zu Angehörigen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften, zu Nachbarn und vormaligen Freunden stark beeinträchtigt. In ihren nervenaufreibenden Ausreisebemühungen wurden viele Deutsche von den kommunistischen Regierungen jahrelang hingehalten. In vielen Staaten wurde durch ein gezieltes Vorgehen gegen die Nutzung und das Erlernen der deutschen Sprache den Gemeinschaften der wichtigste Faktor ihres Zusammenhalts genommen. Die Folgen davon wirken bis heute nach und Sprachkompetenz muss mühsam wiederaufgebaut werden.
Wir erinnern daran, dass bis heute rund 1,2 Millionen Menschen als deutsche Minderheiten in Polen, Ungarn, Rumänien, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Kroatien, Serbien, Slowenien, den baltischen Staaten und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion leben.
Wir erinnern daran, dass sich die Lage der deutschen Minderheiten nach der politischen Wende 1989/90 in Abhängigkeit von den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in den einzelnen Ländern unterschiedlich entwickelt hat. Gründe dafür sind bilaterale Verträge und Abkommen zu ihren Gunsten sowie die vom Europarat gezeichnete Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten, aber genauso die tragfähigen Minderheitenschutzgesetze in den betroffenen Staaten. Hinzu kommt eine inzwischen neue Aufgeschlossenheit der Heimatstaaten und auf deutscher Seite eine höhere Aufmerksamkeit zugunsten der deutschen Minderheiten.
Wir erinnern an die im Geiste des § 96 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) von der Bundesregierung formulierte Solidaritätsverpflichtung, die deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa sowie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bei der Bewahrung ihrer Identität zu unterstützen sowie das Kulturgut der Vertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler im Bewusstsein des gesamten deutschen Volkes zu erhalten. In diesem Sinne unterstützt Deutschland beispielsweise den Aufbau gut organisierter und zukunftsfähiger Selbstverwaltungen, mit denen die jeweilige deutsche Minderheit die Gesellschaft ihres Landes aktiv in ihrem Sinne mitgestalten kann. Ein weiterer Förderschwerpunkt liegt im Bereich Sprachförderung und Jugendarbeit. Die Bundesregierung strebt eine von Transparenz und Partnerschaft gekennzeichnete Zusammenarbeit mit den Regierungen der Herkunftsstaaten deutscher Minderheiten in Europa und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion an. Dieses tragen wir tatkräftig mit.
Wir erinnern daran, dass die deutschen Minderheiten sowie die Vertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler ein wichtiges Bindeglied zwischen den Kulturen sind. Sie bieten die Chance auf einen eigenständigen Beitrag zur Entwicklung kultureller und zivilgesellschaftlicher Brücken und Netzwerke in die Länder Mittel- und Osteuropas sowie in die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Hierin liegt ein wichtiger Teil europäischer Völkerverständigung.
Wir erinnern daran, dass es ganz im Sinne der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950 das gemeinsame Ziel sein muss, immer wieder für ein geeintes Europa einzutreten, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. Damit gehörten die Heimatvertriebenen zu den ersten in der deutschen Bevölkerung, die ein klares Bekenntnis zu einem einigen Europa abgelegt haben. Auch 70 Jahre nach Unterzeichnung der Charta muss es weiterhin unser gemeinsames Ansinnen bleiben, dieses große Friedensprojekt nicht zu gefährden.
Wenn wir am bundesweiten „Nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ an die Nachkriegsopfer und ihr Schicksal erinnern, tun wir dies, damit jetzige und künftige Generationen wissen, wohin Krieg, Hass und Gewalt führen und dass die Erinnerung an den Krieg sowie die Kriegsfolgen den Frieden und die Eintracht fördert.