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Gedenktag 2022


Sehr geehrte Damen und Herren,


der nationale Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung findet seit 2015 jährlich am 20. Juni zeitgleich mit dem Weltflüchtlingstag statt. An diesem Tag gedenken wir der weltweiten Vertreibungs- und Fluchtopfer, insbesondere der Vertriebenen am Ende des Zweiten Weltkrieges, die ihre Heimat unwiederbringlich verloren haben. Der Verlust der Heimat ist ein besonders schweres Schicksal, denn es drohen Identitätsverlust und Entwurzelung.

Viele von uns kennen das mächtige Gefühl von Heimweh. Dieses Heimweh kann uns seelisch wie auch körperlich zusetzen. Es ist geradezu eine Erlösung, wenn wir einen Aufenthalt in der Ferne beenden können und endlich wieder in der Heimat ankommen. Alle Beschwerden, die uns durch das Heimweh belastet haben, sind dann wie weggeblasen. Doch was passiert, wenn der Weg zurück in die Heimat für immer unmöglich ist und wenn der Verlust der Heimat erzwungen wurde? Kann die Zeit die Wunden heilen oder lernen wir lediglich damit umzugehen?

Ich bin fest davon überzeugt, dass der Heimatverlust ein schweres Trauma in jedem auslöst, den dieses Schicksal trifft. Am Ende des Zweiten Weltkrieges haben viele Millionen Deutsche ihre Heimat verloren. Dazu kamen die oftmals unmenschlichen Strapazen auf dem Weg in den Westen. Kälte, Hunger, Schmerz, Tod, Verzweiflung und viele andere Qualen waren neben dem Heimweh die sicht- und spürbaren Begleiter während der Flucht und der Vertreibung.
In einem Buch über die Flucht aus Ostpreußen las ich kürzlich folgende Sätze, geschrieben von einer damals zwanzigjährigen Frau: „Einfach an den Straßenrand setzen, nicht mehr nachdenken, nichts mehr fühlen. Ich bin so müde und mein Baby schreit schon seit Stunden nicht mehr. Leblos liegt das kleine Bündel in meinem Arm. Jemand kommt und nimmt mir mein Kind weg. Ich habe keine Kraft mehr, um mich dagegen zu wehren. Mein Mann wird vermisst, mein Kind ist für immer eingeschlafen und eine Heimat habe ich auch nicht mehr. Ich möchte mich nur einfach an den Straßenrand setzen, nicht mehr nachdenken, nichts mehr fühlen.“

Es sind Berichte von Zeitzeugen, die uns aufrütteln, die das Grauen des Krieges und von Flucht und Vertreibung deutlich machen. Daher ist unser Gedenktag ein Tag der Erinnerung und der Mahnung zugleich.
Doch wenn wir in diesen Wochen in die Ukraine blicken, müssen wir feststellen, dass Gier und Macht noch immer zu Krieg führen. Armes Russland, hast du nichts aus dem unsinnigen Zweiten Weltkrieg gelernt? Musst du dein Volk mit falschen Informationen versorgen, damit du diesen Krieg führen kannst?

Hundertausende Menschen aus der Ukraine, meist Frauen und Kinder, sind zu uns geflüchtet. In den Nachbarländern der Ukraine haben weitere zigtausend Geflüchtete Schutz gesucht. Wir wissen nicht, ob dieser brutale und mit nichts zu rechtfertigende Krieg bald ein Ende finden oder noch Jahre toben wird. Wir sehen täglich die schrecklichen Bilder von verwundeten und getöteten Menschen, zerstörten Häuser, Fabriken und Straßen. Diese Bilder lösen auch bei uns Sorgen und Ängste aus. Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, werden von den Erinnerungen an Krieg, Flucht und Vertreibung eingeholt. „Alles kommt wieder hoch. Ich höre die Einschläge der Bomben und rieche den beißenden Geruch, der über unserer Stadt lag, als wir nach zwei langen und angstvollen Tagen aus dem Luftschutzkeller herauskamen“. Solche Erinnerungen verschwinden nicht, auch nicht nach einem langen Leben. Sie drängen sich mit aller Wucht in das Bewusstsein derer, die zu der sogenannten Erlebnisgeneration gehören.

Ich wünsche den Geflüchteten aus der Ukraine von ganzem Herzen, dass sie bald in ihre Heimat zurückkehren können und dass sie nicht das schlimme Schicksal des endgültigen Heimatverlustes der Flüchtlinge und Vertriebenen am Ende des Zweiten Weltkrieges erleben müssen.
Der Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung ist wichtig. Wir müssen noch viel öfter und intensiver über das Grauen am Ende des Zweiten Weltkrieges sprechen, müssen noch viel lauter mahnen und müssen einmal mehr denen zuhören, die über Jahrzehnte geschwiegen haben.


Mit herzlichen Grüßen

Ihre
Editha Westmann



Hannover, den 20. Juni 2022

Artikel-Informationen

Ansprechpartner/in:
Verbindungsbüro zur Niedersächsischen Landesbeauftragten für Heimatvertriebenen, Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler

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